Ist Selbstjustiz ein Weg? Das habe ich mich gefragt, als ich Linus Geschkes Thriller „Tannenstein“ letzte Woche gelesen habe. Vielleicht erinnerst du dich noch wie ich an den Fall Marianne Bachmeier, die am 6.März 1981 den Mörder ihres Kindes im Gerichtssaal erschoss. Es war der erste Fall von Selbstjustiz in der Bundesrepublik nach dem Krieg. Die Öffentlichkeit war gespalten. Die einen sahen in der Mörderin eine verzweifelte Mutter, die anderen warfen Bachmeier vor, sie habe die Tat akribisch geplant.
Heute kennen wir Selbstjustiz eher bei den Ehrenmorden aus dem Milieu der Migranten und Asylanten. Und gerade dieses Thema, Selbstjustiz, ist der Faden, mit dem der Autor Linus Geschke seinen Roman gestrickt hat.
Linus Geschkes Tannenstein ist ein blutiger Thriller
Dieses Buch lässt mich mit einer Gänsehaut zurück. Und mit gemischten Gefühlen. Der Autor hat sich ein Thema vorgenommen, für das man kaum Worte finden kann. Selbstjustiz oder ein Rachefeldzug, weil die Gewaltenteilung nicht die wirklich Schuldigen bestrafen kann. Eine Verzweiflungstat oder eine Tat aus Liebe, was auch immer: Ist das die moralisch richtige Entscheidung? Hier kommt Ethik ins Spiel und an seine Grenzen.
Alles fängt in dem kleinen Ort Tannenstein, nahe der tschechischen Grenze, an. Dort werden elf Menschen in einem Lokal niedergeschossen. Später kommen noch andere Morde dazu, und immer ist der Wanderer für die Taten verantwortlich. Diesen mysteriösen Killer will Alexander Born, Ex-Bulle und Ex-Strafgefangener, zur Strecke bringen.
Der Wanderer verfolgt ein Ziel, wenn er mordend durch Europa zieht, doch welches, bleibt lange unklar, wie so vieles, was sich erst zum Ende des Thrillers hin erschließt. Borns Motivation dagegen ist glasklar. Er will den Mord an seiner Lebensgefährtin Lydia rächen. Born ist getrieben von Rache und Liebe und taucht immer mehr in die Welt der Russenmafia ein.
Linus Geschke liefert klare und gut lesbare Prosa
Linus Geschke schreibt klar, schnörkellos und direkt, und trotzdem auch mit einer atmosphärischen Dichte, die mich fasziniert:
Ein in Beton gegossenes Bild der Trostlosigkeit, vergessen und abgehängt vom Rest der Welt. (Tannenstein, S.217)
oder
Der gesamte Ort lag wie ausgestorben da, nur die Bäume schienen miteinander in einer Sprache zu flüstern, die niemand verstand.(Tannenstein, S. 340)
Wie es sich für einen Thriller gehört, prescht die Handlung voran. Allerdings ist dieses Buch keine leichte Kost. So brutal wie die Welt der Russenmafia ist, so werden ihre Aktivitäten auch beschrieben. Das sind keine Szenen für Zartbesaitete. Ich musste manchmal schlucken. Die Realität ist immer noch grausamer als Literatur. Der Gedanke ist fast nicht auszuhalten.
Ich fand den Thriller fesselnd, Sprache und Handlung haben mich angefixt, so dass ich das Buch nicht aus der Hand legen konnte, getrieben von einer Spannung, die sich von der ersten Seite aufbaut und sich bis zum Schluss durchträgt. Kurze Kapitel reihen sich aneinander wie die Munition in den Maschinengewehren auf den Seiten und werden mit einem präzisen Schuss abgeliefert. Ich wollte weiterlesen, herausfinden, warum der Wanderer mordet. Born, dieser Polizist, der sich zum Rächer aufspielt und selbst keine weiße Weste hat, ist eine gut gezeichnete Figur, schillernd und so untypisch.
Ist Selbstjustiz in einem Rechtsstaat ein notwendiges Übel?
Was zurückbleibt: Tannenstein ist ein blutiger, brutaler, aber auch kurzweiliger Thriller, der sich mit den Themen Moral und Selbstjustiz auseinandersetzt. Ich bleibe mit einem Unbehagen zurück: Kann unser politisches System die Täter dieser Verbrecherkartelle wirklich kontrollieren? Oder sind uns – Rechtsstaat hin und her – letztendlich die Hände gebunden? Folgen, wenn Köpfe rollen, nicht gleich die Kronprinzen, die wieder den Thron der Macht und Gewalt besteigen? Ist Selbstjustiz der Weg? Und wenn ja, wann haben wir das Recht, diese auszuüben? Hatte der Wanderer diese Lizenz zum Töten? Hat Born sie? Haben wir sie? Ist die Selbstjustiz ein legitimer Weg für den Staat, wenn die Politik ihm die Hände bindet?
Ist diese Spirale der Gewalt nicht endlos? Wie und wer kann sie durchbrechen? Wenn wir nichts tun, wenn uns die Hände gebunden sind: Wer kämpft den Kampf für die Schwachen in diesem Spiel?
Eine Regierung ist nur eine gute Regierung, hat der dänische Liedermacher Kim Larsen gesagt, wenn sie sich um die Schwachen kümmert.
Wer wird sich also der Frauen und Kinder annehmen, die hier verbraucht werden? Eine deprimierende Lesung, denn es gibt einfach keine befriedigende Antwort. Zumindest habe ich sie noch nicht gefunden. Wenn du sie hast, dann teile sie mir gerne mit.
Ach ja: Ich behaupte ja, dass die gewisse Prise „Liebe“ in jedem Genre zu finden ist, und dass ich deshalb Liebesromane schreibe. Auch hier, auf diesem blutigem Thrillerpapier, geht es um Liebe. Eine Liebe, die sich pervertiert und zur Rache wird; es geht um die Liebe junger Frauen, die ihre Familien unterstützen wollen und dabei Hilfe bei den falschen Männern suchen. Traurig, aber wahr.
Linus Geschke: Tannenstein. dtv 2019