Wenn Verlierer mein Herz berühren
…. oder eine Buchbesprechung von Susanne Pavlovic Ganz dringend ans Meer.
Ich muss etwas gestehen. Ich kann als Autorin Bücher nie lesen, ohne sie zu analysieren. Nicht wie in der Schule. Aber ich frage mich, warum hat mir dieses Buch gefallen? Wie hat der Autor Spannung aufgebaut? Was war sein Thema? Wie hat er die Figuren eingeführt? Hat mir seine Sprache gefallen und warum … Manchmal nervt es mich, aber ganz oft finde ich es klasse.
Und wenn wir schon dabei sind, muss ich noch etwas gestehen: Ich lese fast alle Bücher zu Ende, auch die grottenschlechten (von denen es weniger gibt, als man meint, zumindest in meinem Regal!), einfach um etwas zu lernen. Dann ist die Frage: Warum hat mich der Text kalt gelassen? Wieso finde ich die Figuren langweilig?
Stolpere ich unbewußt über Liebesgeschichten?
Momentan habe ich das Glück, viele Bücher zu lesen, wo ich viel Schreibtechnik und richtig gute Unterhaltung mitnehme. Die werde ich dir auch im Laufe der nächsten Zeit vorstellen. Letzte Woche habe ich schon Liebesbriefe von Montmartre erwähnt und die lebensechten, oft schnodderigen Dialoge in diesem Buch.
Die verborgenen Stimmen der Bücher von Bridget Collins haben mich auch angerührt, weil ich diese Mischung aus Fantasy und Moderne mag und die Spannung gekonnt aufgebaut ist. Dazu ist es auch eine Liebesgeschichte der anderen Art. Stolpere ich unbewußt immer über Liebesgeschichten?
Gerade lese ich von Susanne Pavlovic Ganz dringend ans Meer. Getriggert hat mich das Cover, der Titel und dass ich Susanne, besser bekannt als Textehexe, sehr mag. Sie hat mich als Lektorin ausgebildet. Susanne ist eine der fähigsten Kolleginnen, die ich habe. Bisher war sie im Fantasy-Bereich unterwegs. Deshalb hat mich ihr neues Buch besonders neugierig gemacht hat.
Und wieder: ein Volltreffer. Hatte ich etwas anderes erwartet? Nein, eigentlich nicht.
Was gefällt mir an Ganz dringend ans Meer?
Ganz vieles.
Da ist die Sprache. Nüchtern, aber auch poetisch, spiegelt sie das Milieu, in dem die Figuren sich bewegen. Die Dialoge, so lebensecht und präzis. Ist dir eigentlich schon aufgefallen, wie gestelzt die meisten Dialoge in Büchern sich lesen? So rede ich nie, so druckfrisch, grammatisch korrekt … Aber lassen wir das.
Mir gefällt, dass die Autorin ein gesellschaftskritisches Thema nimmt. Die Hauptperson Wanja, Russendeutscher und ehemaliger Drogendealer, kommt nach sechs Jahren Haft frei. Ich will nicht spoilern, dafür ist der Roman zu gut, und du sollst das Buch wirklich selbst lesen.
Berührt hat mich sehr, wie ehrlich und realistisch die Geschichte ist. Es ist eine zarte Liebesgeschichte, wie sie das Leben schreibt, ohne Zuckerguss und Kitsch, den wir durch Holly- und Bollywood fast alle gewöhnt sind, und der uns auf ungesunde Art verdorben hat für die echte Liebe. Für die müssen wir oft kämpfen und einen höheren Preis bezahlen, als nur mit den Fingerkuppen auf dem Bizeps eines Mannes Klavier zu spielen. Oder die Augen gekonnt feminin aufzuschlagen. Oder den Macho rauszukehren, um die Prinzessin zu ergattern.
Vorurteile werden abgebaut
Als Autorin finde ich genial gemacht, wie Susanne Pavlovic die Vorurteile, die die meisten Menschen haben, abbaut. Denn mal ganz ehrlich. Wenn du hörst: Russendeutscher, Dealer, Gefängnis, dann weißt du, mit wem du es zu tun hast, oder? Wirklich? Weißt du, wie es ist, von Anfang an keine Zukunft zu haben, nur weil du im falschen Stadtteil oder in der falschen Familie geboren wurdest?
Aber auch sonst überraschen die Personen: Da ist der gute Sohn, der sich raus- und hochgearbeitet hat. Jetzt führt er ein Bilderbuchleben, nicht weit vom Ghetto „Waldhöhe“ seiner Kindheit. Leider ist ihm dabei das Herz auf der Strecke geblieben. Aber noch hat er es nicht geschafft, seinen kleinen Sohn zu verderben. Es gibt also noch Hoffnung für diese Welt.
Ganz toll ist die Regentin, die mit weiblicher Intuition und Härte die Jungens ihrer Mafia in Schach hält. Mamutschka, sie liebe ich, weil sie einfach ein wunderbar großes Mama-Herz hat; eine Mutter, die an ihre Söhne glaubt, auch wenn sie Mist bauen. Wer braucht nicht so eine Mutter? Ganz tief drinnen brauchen wir alle so eine Mutter und wenn wir sie bekommen, erhalten wir ein Paket an Kraft, mit dem wir die Welt aus den Angeln heben können. Ich bin sicher, dass Wanja Mamutschkas guten Gene geerbt hat. Dann ist da noch Magda, die trotz der Härte ihres Lebens immer noch den Blick für Menschen hat, die ihr Ohr und ihre Hand und auch ihren Wohnwagen brauchen. Nur um Hilfe bitten, das hat sie verlernt, genauso wie Wanja. Wahrscheinlich sind sie sich deshalb so ähnlich, Wanja und Magda. Sogar Nebenfiguren wie der abgehobene und schräge Student Mo mit seinem Traum von einer besseren Welt, der jedoch fast narzistisch in seiner Jurte bleibt, sind klasse gezeichnet. Bis auch er zeigt, dass mehr in ihm steckt.
Mein absoluter Favorit, der mir auf jeder Seite das Herz zerreißt, ist Felix, genannt Stöpsel, der sich selbst das glückliche Kind nennt. Viel zu viel hat er schon erlebt in einer Welt, die grausamer ist, als man auf den Buchseiten ertragen kann. Er hat mein Herz immer wieder angerührt. Jetzt halte ich den Mund, damit du auch in den Genuss dieser wunderbaren Erzählung kommst.
Bücher sollen uns Lust auf das Menschsein machen
Die Autorin Susanne Pavlovic hält unserer Gesellschaft – und das heißt auch dir und mir – einen Spiegel vor:
Jeder Mensch – auch ein Knacki, ein Dealer – verdient eine Chance auf einen Neuanfang. Ganz dringend ans Meer wird mir lange im Gedächtnis bleiben. Das allein ist eine Leistung.
Ganz vielen Dank an Susanne. Ich habe mich gut unterhalten gefühlt, viel gelernt und sie hat mich als Mensch herausgefordert. Natürlich sollen Bücher nicht moralisieren, und dafür ist Susanne auch viel zu professionell. Sie moralisiert nie. Zumindest nicht auf diesen Seiten.
Aber Bücher sollen auch nicht nur Scheinwelten aufbauen, fiktive Welten, die uns nur die Flucht aus unserer Welt erlauben. Dann vergessen wir, unseren Beitrag in dieser Welt zu leisten. Der besteht für mich immer noch darin, diese Chaos-Welt ein wenig heller zu machen, besser zu gestalten, wärmer einzurichten und aufzuhübschen. Damit sie eine Kosmos-Welt wird. Um Hilfe bitten und sie geben, je nachdem, was man gerade braucht.
Bücher sollen uns Lust auf das Menschsein schenken, mit allen Licht- und Schattenseiten, und uns zu besseren Menschen machen, empathischer, verständnisvoller. Und auch vertrauensvoller in die Menschen, so dass wir wagen, uns ihnen anzuvertrauen.
Mag sein, dass du das nicht so siehst. Ich schon. Ansonsten möchte ich meine kostbare Lebenszeit nicht mit Geschichten verbringen.
Wir haben Verantwortung, weil wir Menschen sind – und das hat Susanne uns gezeigt.
Besser geht Literatur nicht.
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