„Eine weite Reise liegt vor Ihnen.“
Nora lauschte der Wahrsagerin, die mit dem Finger Noras Lebenslinie nachzeichnete. So wie sie mit zusammengekniffenen Augen vor ihr hockte, ganz versunken in ihrer eigenen Welt, erinnerte sie Nora an einen Forscher, der mystische Zeichen entziffert. Genauso fremdartig war ihr Name. Miranda. Das stand zumindest auf dem Schild vor der Tür. Ein Name, wie geschaffen für eine Hellseherin. Offensichtlich war sie nicht zufrieden mit dem, was sie in Noras Handteller entdeckte, denn sie hob den Kopf und strich sich die Haare aus der Stirn. Dann schnalzte sie mit der Zunge.
„Vor Ihnen liegt ein Weg, der nicht immer einfach sein wird. Folgen Sie ihm bis zum Ende, dann erreichen sie ihr Ziel. Schritt für Schritt …“
Boah, diese Pseudowahrheiten! Sie erinnerten Nora nur zu sehr an den einstudierten Text eines Marktschreiers. Ob Miranda immer die gleichen Plattitüden von sich gab? Sie machte doch auch nur ihren Job wie alle anderen. Nora hatte sich mehr erhofft. Zumindest ein paar konkrete Antworten oder klitzekleine Hinweise, wie es jetzt weitergehen sollte. Mom war tot und sie ihren Job los.
Miranda hatte wirklich für jedes erdenkliche Klischee gesorgt. An ihren Ohren baumelten riesige Klunker. Sogar die Kristallkugel lag auf dem Tisch, auch wenn Miranda die nicht einmal angeschaut hatte. Wahrscheinlich sollte dieser Dekogegenstand sowieso nur die Erwartungen der Klienten erfüllen. Nur Mirandas Haar entsprach nicht dem einer Zigeunerin. Weißblond war es, schimmerte hell wie der arktische Sommer.
„Sie glauben, Ihre Mutter hätte Sie verraten“, raunte Miranda weiter. Nora stieß die Luft aus. Sollte sie jetzt nicht lieber abhauen? Wie konnte es sich die Frau so leicht machen? Gab es überhaupt einen Menschen, der sich von seinen Eltern verstanden fühlte? Sie kannte niemanden.
Na gut, sie hatte ihr Geld hier verplempert, und deshalb würde sie sich auch den Rest anhören. Vielleicht kam der Clou, die Offenbarung des Tages, zum Schluss. Als abschließendes Crescendo. Sehr viel Zeit hatte Miranda sicher nicht mehr für sie übrig. Was hatte sie eigentlich erwartet? Eine Antwort auf ihre brennendste Frage? Ein Tipp, wie sie die nächste Miete bezahlen sollte? Hinausgeschmissenes Geld. Davon hatte sie weiß Gott nicht genug, seitdem ihr Vertrag im „Louis“ abgelaufen war. Einen Bühnenvertrag hatte sie auch noch nicht.
Jetzt hielt die Frau inne, riss die Augen auf und starrte fasziniert auf Noras Handflächen. Konnte sie wirklich etwas in ihnen entziffern? Miranda drückte die Hand, als wollte sie eine Zitrone auspressen, kniff die Augen zusammen. Sachte schaukelte sie hin und her. Suchte sie nach einem guten Stichwort für ihre Lügengeschichte?
„Sie suchen Ihren Dad“, flüsterte Miranda schließlich.
Nora schluckte die Grütze unter, die sich in ihrem Hals bereitmachte. Jetzt wurde es interessant. Wusste Miranda etwas über ihren Dad? Mehr als das Übliche? Er war ein Jazzmusiker gewesen und ausgestattet mit einer Stimme, so göttlich, dass Mom ihr Höschen fallen gelassen hatte.
Miranda starrte noch immer auf Noras Handteller. Ihre Stimme veränderte sich, wurde tiefer. Fast schien es, als käme sie von weit her.
„Das Geheimnis um Ihren Dad wird Sie mit anderen Menschen zusammenketten. Für immer. Noch heute werden Sie …“
„Mein Dad hat geheiratet? Hab ich Geschwister?“ Schön wär’s. Dann wäre sie nicht mehr ganz allein auf der Welt.
Miranda ließ Noras Hand los. Ihr Blick war verschleiert. „Ich kann Ihnen nichts mehr sagen. Gute Reise.“
Nora erhob sich. Sie spürte jeden Knochen, so sehr hatte sie sich unter der Sitzung angespannt. Steifbeinig stakste sie zur Tür. Als sie die wackeligen Stufen herunterkletterte, schwappten die Geräusche der Kirmes über sie wie eine Riesenwelle. Dosenbeschallung, kreischende Menschen, feilbietende Losbudenverkäufer. Ihre Hand wanderte in die Jackentasche. Dort ertasteten ihre Finger die zackigen Kanten der Briefmarke. Wenn sie Miranda doch glauben könnte! Das war doch nur Show gewesen. Ein Schuss ins Blaue! Aber woher wusste sie das mit ihrem Vater?
„Lose, drei für zwei Dollar, eines für einen … Nutzen Sie die Chance Ihres Lebens. Bei uns gewinnen Sie immer, wir haben keine Nieten. Keine Nieten. Nur Gewinne. Kaufen Sie Lose!“
Der Losverkäufer, ein drahtiger Kerl mit vorstehenden Zähnen und Frettchenaugen, baute sich vor ihr auf. „Wie viel ist Ihnen Ihr Glück wert, Schätzchen?“
„Das Schätzchen können Sie sich für jemand anderes aufsparen. Das, was ich brauche, kann man nicht kaufen.“
„Jaja, die wichtigen Dinge sind gratis. Versuchen Sie trotzdem ihr Glück. Ich sag Ihnen, bei uns gewinnen Sie immer.“
„Gut möglich, aber ich brauche keine Plüschbären zum Schmusen.“ Nora zeigte auf die in ordentlichen Reihen aufgestapelten Gewinne. An der hinteren Wand des Schauwagens tummelten sich Bären in allen Größen und Farben. Ein Paddington mit Koffer und Hut war auch dabei.
„Und was ist mit den anderen Prämien?“
„Bei meinen Kochkünsten helfen auch keine Küchenmaschinen.“
Der Verkäufer beugte sich so weit vor, dass sie seinen Atem riechen konnte. Minze. Er kaute Kaugummi. Sanft öffnete er ihre Hand, drückte ihr ein Los in die Faust und schloss die Finger um das Papier. „Das ist ein exklusives Los, nur für Sie.“
„Aber …“
„Das geht aufs Haus. Ich hab so ein Gefühl, dass Sie es brauchen.“
„Ach nee! Und warum?“
„Wollen Sie das wirklich wissen? Echt?“
„Klar.“
„Sie sehen so verlassen aus, als wenn es niemanden mehr gibt, der Sie hält. Als Sie eben aus Mirandas Wagen kamen, waren Sie weiß wie Neuschnee. Egal, was Sie jetzt glauben, aber Miranda weiß genau, worüber sie redet. Warten Sie es nur ab.“
„Sie hat mir das Übliche verklickert. Eine Reise, Geheimnisse und den Hauptgewinn … “
„Einen Gewinn? Dann ist das Los vielleicht ein Anfang. Na, machen Sie es schon auf.“
„Natürlich, ich gewinne einen Teddy, der mich tröstet.“ Sie lachte nervös und öffnete die Hand. Ein Papierröllchen, blassrosa, wie ein winziger Samen. Ein Band hielt das Los zusammen. So wie es jetzt noch alle Wünsche und Träume zusammenhielt. Was würde passieren, wenn sie das Röllchen öffnete? Würde sie wirklich etwas gewinnen? War dann der Zauber weg? Oder ging es danach erst richtig los? Das hier war doch alles Quatsch! Trotzdem flatterte ihr Herz vor Aufregung wie ein wild mit den Flügeln schlagender Kolibri. Was wäre, wenn heute etwas ganz Verrücktes passieren würde?
„Nun machen Sie schon. Ich kann nicht den ganzen Abend hier herumstehen. Zeigen Sie mir, was Sie gewonnen haben.“
Witzig. Er glaubte wirklich, dass sie etwas gewinnen würde.
„Also gut.“ Sie streifte das Band ab, rollte das Papier aus und sperrte die Augen auf. „Das ist ja unglaublich …“