Endlich! Vivian Sangild sank mit einem Seufzer auf den Rücksitz des Taxis und streifte die Pumps von den Füßen. Erleichtert wackelte sie mit den Zehen. Die Gläser ihrer Schildpattbrille beschlugen in der feuchten Wärme des Mercedes. Für Oktober war es empfindlich kalt; polnische Meteorologen hatten einen Jahrhundertwinter vorausgesagt. Vielleicht, so hoffte Vivian, während sie ihre eisigen Hände knetete, gab es dieses Jahr wenigstens weiße Weihnachten. So eine richtige Winterwunderwelt, mit knirschendem Schnee, Tannenbäumen, die sich unter dicken Hauben neigten. Wie würde sie das genießen!
Sie putzte ihre Brille, setzte sie wieder auf die Nase und sah aus dem Fenster. Geräuschlos glitt die Limousine durch die Straßen, an Lichtreklamen vorbei. Schneeregen funkelte im Scheinwerferlicht wie bunte Kristalle. Tropfen klammerten sich an die Scheibe, wurden schwerer, rutschten hinab und zogen eine Spur abwärts. Mit der Hand folgte sie der Spur auf der Innenseite des Fensters, als wollte sie eine Karte entziffern.
Sie hatte einen Grund zu feiern. Nein, zwei, wenn sie ehrlich war. Die Reise nach Oslo hatte ihre Erwartungen bei Weitem übertroffen. Morten würde staunen. Und nach den anstrengenden Wochen würde sie sich jetzt Urlaub gönnen. Aber heute Abend würden sie es sich einfach gemütlich machen; die Ruhe und einander genießen. Es war höchste Zeit, dass sie wieder in ihre Beziehung investierten. Leben war nicht nur Arbeit.
Sie strich über die vom Regen feuchte Plastiktüte. An alles hatte sie gedacht: Lachs, Kaviar und den hellen Myseost mit Sahne, mit der Farbe von gebranntem Zucker. Morten vergötterte diesen norwegischen Ziegenkäse, der wie Karamell auf der Zunge zerging. Vivian holte ihr Smartphone aus der Manteltasche und wählte Mortens Nummer. Sie wickelte eine tizianrote Locke, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte, um den Finger. Wartete. Schon wieder die Mailbox. Der Ärmste. Wahrscheinlich belagerte diese Galeristin ihn immer noch. Jahrelang hatte er darauf hingearbeitet, in einer renommierten Galerie seine Bilder ausstellen zu dürfen, und nun bestimmte Katarina Dombrowski sein Leben.
Morten, Liebster, äffte Vivian lautlos die Galeriechefin nach, die seit Wochen den Rhythmus ihres Alltags bestimmte. Könntest du vielleicht noch mal kurz kommen …
Nächtelang arbeitete er durch und kam nicht einmal zum Schlafen nach Hause, jetzt so kurz vor der Vernissage. Aber das hatte bald ein Ende. Vielleicht sollten sie sich einen Kurzurlaub gönnen? Nach Mailand oder Rom? Oder an das Kattegat?
„Is` zeitich kalt jeworden …“ Der Fahrer, ein stiernackiger Mittfünfziger, suchte ihren Blick im Rückspiegel und bremste sachte vor einer Ampel ab.
Vivian nickte. „Ja, richtiges Kakaowetter ist das.“
„Schietwetter.“ Der Chauffeur grinste und fuhr wieder los.
Schietwetter hin oder her, es war genau das richtige Wetter für einen gemütlichen Abend zu zweit. Schließlich war heute so was wie ihr Hochzeitstag. Es war der Tag, an dem sie ein paar geworden waren. Wenn Morten doch nicht so vehement Ehe und Kinder, einfach alles, was sie sich insgeheim immer gewünscht hatte, als den unzeitgemäßen Stress der Mittelklasse abschreiben würde.
Schläfrig blinzelte sie aus dem Fenster. Das Taxi passierte die Trabrennbahn Mariendorf und bog kurz darauf in die Lintruper Straße ein. Das Kopfsteinpflaster rüttelte Vivian durch.
„So, da sind wa. Uf`’m Land, da wollten`se ja hin, wa?“ Der bullige Fahrer bremste vor einer zweistöckigen Villa aus der Jahrhundertwende. Vivian schaute hoch. Die Badezimmerfenster waren hell erleuchtet. Vielleicht lag Morten schon im Whirlpool? Dann musste sie das Abendprogramm noch kurzfristig ändern. Sie spürte ein erwartungsvolles Ziehen im Unterleib. Schnell drückte sie dem Fahrer einige Scheine in die Hand. „Ist gut so.“
„Ich saje denn ma` nett danke und wünsche `n scheenen Abend.“
Vivian stieg aus, hob die Kapuze über den Kopf und beobachtete, wie der Fahrer den Rollenkoffer aus dem Kofferraum hob. Er nickte ihr noch einmal zu. Vivian atmete tief ein. Kein Vergleich mit der kühlen Luft in Oslo, sondern modrig feucht roch es, fast wie auf dem Land. Herbst. Die kahlen Äste der Bäume ragten in den Himmel, als wollten sie ins Unendliche greifen. Der Herbst machte Vivian immer wehmütig, erinnerte sie daran, dass alles ein Ende hatte. Sie wandte sich ab und ihr Blick fiel auf den Porsche, der neben Mortens Peugeot parkte. Irritiert furchte sie die Stirn. War das nicht Katarinas Wagen? Die fuhr doch auch Porsche … Verfolgte sie Morten nun schon bis in ihr Zuhause? Oder hatte die Nachbarin Besuch? Aber so ein Auto fuhr ja nicht jeder, schon gar nicht in diesem Viertel, wo Familien mit Kindern lebten. Lichtenrade war trotz allem nicht der Wannsee. Wahrscheinlich nur ein blöder Zufall.
Leise summend zerrte Vivian den Rollenkoffer die Stufen zur Haustür hoch. Sie fischte den Schlüssel aus der Manteltasche und schloss die Tür auf. Im Treppenhaus duftete es verführerisch nach frisch gebackenem Brot. Aus der Parterrewohnung schimmerte Licht durch die gesprungene Milchglasscheibe. Vivian streifte die feuchten Pumps ab und tapste die Holztreppe hinauf. Sachte knarrten die Stufen unter ihren Schritten. Vor Wiedersehensfreude hämmerte ihr Herz, doch sie entspannte sich, als aus der Wohnung Jazz drang. Morten würde sie nicht hören. Sie konnte so viel Lärm machen, wie sie wollte, und würde ihn trotzdem überraschen.
Mit dem Fuß stieß sie die Wohnungstür hinter sich zu. Der Flur lag im gedämpften Licht. Sie ließ den Koffer stehen, legte den Hausschlüssel unter den Spiegel neben der Garderobe. Als sie die Küchentür öffnete, um die Einkäufe in den Kühlschrank zu legen, blieb sie einen Augenblick stehen. Auf dem Herd köchelte etwas Aromatisches. Sie schnupperte und sofort grummelte ihr Magen. Basilikum und Tomaten. Sie hob den Deckel von der Kasserolle und lächelte zufrieden. Minestrone. Ihre Lieblingssuppe. Der Tisch war gedeckt. Zwei Teller und Weingläser.
Ihre Hände wurden nass. Gegen ihre Rippen hämmerte ihr Herz. Sie schlich ins Wohnzimmer. Der Schein der Straßenlampe fiel durch die vom Wind bewegten Äste der Magnolie im Vorgarten und warf tanzende Schatten auf den Boden. Immer noch wummerte die Musik, wurde mit jedem Schritt lauter. Ihr Fuß verfing sich in etwas Weichem, sie stolperte, bückte sich und hielt einen Kaschmirschal in der Hand. Eiskalt rannte es Vivians Rücken herunter. Sie stieß die Tür zum Schlafzimmer auf. Dort war es taghell, gleißendes Licht enthüllte die Wahrheit. Ihr Mund dörrte aus wie ein Flussbett in der Trockenzeit.
Der Futon war zerwühlt. Ein Hemd lag auf dem Boden, dicht daneben eine Hose und ein Seidentanga. Dieser Mistkerl!
Entschlossen riss sie die Badezimmertür auf. Ein Lichtermeer von Kerzen warf einen Schimmer über schwarze Haare. Vivian erstarrte; doch dann sprang die Wut sie an wie ein wildes Tier, und genau in diesem Moment tauchte Morten aus dem Schaum auf, voller Leidenschaft sah er Katarina an. Katarina Dombrowski drehte sich um und starrte Vivian an.